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Und sie dürfen sich nicht beirren lassen in Ihrer
Einsamkeit, dadurch, daß etwas in Ihnen ist, das
sich herauswünscht aus ihr. Gerade dieser Wunsch
wird Ihnen, wenn Sie ihn ruhig und überlegen und
wie ein Werkzeug gebrauchen, Ihre Einsamkeit ausbreiten
helfen über weites Land. Die Leute haben (mit Hilfe
von Konventionen) alles nach dem Leichten hin gelöst
und nach des Leichten leichtester Seite; es ist aber
klar, daß wir uns an das Schwere halten müssen;
alles Lebendige hält sich daran, alles in der Natur
wächst und wehrt sich nach seiner Art und ist ein
Eigenes aus sich heraus, versucht es um jeden Preis
zu sein und gegen allen Widerstand. Wir wissen wenig,
aber daß wir uns zu Schwerem halten müssen,
ist eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird; es
ist gut, einsam zu sein, denn Einsamkeit ist schwer;
daß etwas schwer ist, muß uns ein Grund
mehr sein, es zu tun.
Auch zu lieben ist gut: denn Liebe ist schwer. Liebhaben
von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste,
was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die
letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für
die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.
Darum können junge Menschen, die Anfänger
in allem sind, die Liebe noch nicht: sie müssen
sie lernen. Mit dem ganzen Wesen, mit allen Kräften,
versammelt um ihr einsames, banges, aufwärts schlagendes
Herz, müssen sie lieben lernen.
Lernzeit aber ist immer eine lange, abgeschlossene Zeit,
und so ist Lieben für lange hinaus und weit ins
Leben hinein -: Einsamkeit, gesteigertes und vertieftes
Alleinsein für den, der liebt. Lieben ist zunächst
nichts, was aufgehen, hingeben und sich mit einem Zweiten
vereinen heißt (denn was wäre eine Vereinigung
von Ungeklärtem und Unfertigem, noch Ungeordnetem
-?), es ist ein erhabener Anlaß für den einzelnen,
zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden,
Welt zu werden für sich um eines anderen willen,
es ist ein großer, unbescheidener Anspruch an
ihn, etwas, was ihn auserwählt und zu Weitem beruft.
Nur in diesem Sinne, als Aufgabe, an sich zu arbeiten
(«zu horchen und zu hämmern Tag und Nacht»),
dürften junge Menschen die Liebe, die ihnen gegeben
wird, gebrauchen. Das Aufgehen und das Hingeben und
alle Art der Gemeinsamkeit ist nicht für sie (die
noch lange, lange sparen und sammeln müssen), ist
das Endliche, ist vielleicht das, wofür Menschenleben
jetzt noch kaum ausreichen.
Darin aber irren die jungen Menschen so oft und so schwer:
daß sie (in deren Wesen es liegt, keine Geduld
zu haben) sich einander hinwerfen, wenn die Liebe über
sie kommt, sich ausstreuen, so wie sie sind in all ihrer
Unaufgeräumtheit, Unordnung, Wirrnis...: Was aber
soll dann sein? Was soll das Leben an diesem Haufen
von Halbzerschlagenem tun, den sie ihre Gemeinsamkeit
heißen und den sie gerne ihr Glück nennen
möchten, ginge es an, und ihre Zukunft? Da verliert
jeder sich um des anderen willen und verliert den anderen
und viele andere, die noch kommen wollten. Und verliert
die Weiten und Möglichkeiten, tauscht das Nahen
und Fliehen leiser, ahnungsvoller Dinge gegen eine unfruchtbare
Ratlosigkeit, aus der nichts mehr kommen kann; nichts
als ein wenig Ekel, Enttäuschung und Armut und
die Rettung in eine der vielen Konventionen, die wie
allgemeine Schutzhütten an diesem gefährlichsten
Wege in großer Zahl angebracht sind. Kein Gebiet
menschlichen Erlebens ist so mit Konventionen versehen
wie dieses: Rettungsgürtel der verschiedensten
Erfindung, Boote und Schwimmblasen sind da; Zuflüchte
in jeder Art hat die gesellschaftliche Auffassung zu
schaffen gewußt, denn da sie geneigt war, das
Liebesleben als ein Vergnügen zu nehmen, mußte
sie es auch leicht ausgestalten, billig, gefahrlos und
sicher, wie öffentliche Vergnügungen sind.
Zwar fühlen viele junge Menschen, die falsch, d.
h. einfach hingebend und uneinsam lieben (der Durchschnitt
wird ja immer dabei bleiben -), das Drückende einer
Verfehlung und wollen auch den Zustand, in den sie geraten
sind, auf ihre eigene, persönliche Art lebensfähig
und fruchtbar machen -; denn ihre Natur sagt ihnen,
daß die Fragen der Liebe, weniger noch als alles,
was sonst wichtig ist, öffentlich und nach dem
und jenem Übereinkommen gelöst werden können;
daß es Fragen sind, nahe Fragen von Mensch zu
Mensch, die einer in jedem Fall neuen, besonderen, nur
persönlichen Antwort bedürfen -: aber wie
sollten sie, die sich schon zusammengeworfen haben und
sich nicht mehr abgrenzen und unterscheiden, die also
nichts Eigenes mehr besitzen, einen Ausweg aus sich
selbst heraus, aus der Tiefe der schon verschütteten
Einsamkeit finden können?
Sie handeln aus gemeinsamer Hilflosigkeit, und sie geraten,
wenn sie dann, besten Willens, die Konvention, die ihnen
auffällt (etwa die Ehe), vermeiden wollen, in die
Fangarme einer weniger lauten, aber ebenso tödlichen
konventionellen Lösung; denn da ist dann alles,
weithin um sie – Konvention; da, wo aus einer
früh zusammengeflossenen, trüben Gemeinsamkeit
gehandelt wird, ist jede Handlung konventionell: jedes
Verhältnis, zu dem solche Verwirrung führt,
hat seine Konvention, mag es auch noch so ungebräuchlich
(d.h. im gewöhnlichen Sinn unmoralisch) sein; ja,
sogar Trennung wäre da ein konventioneller Schritt,
ein unpersönlicher Zufallsentschluß ohne
Kraft und ohne Furcht.
Wer ernst hinsieht, findet, daß, wie für
den Tod, der schwer ist, auch für die schwere Liebe
noch keine Aufklärung, keine Lösung, weder
Wink noch Weg erkannt worden ist; und es wird für
diese beiden Aufgaben, die wir verhüllt tragen
und weitergeben, ohne sie aufzutun, keine gemeinsame,
in Vereinbarung beruhende Regel sich erforschen lassen.
Aber in demselben Maße, in dem wir beginnen, als
einzelne das Leben zu versuchen, werden diese großen
Dinge uns, den einzelnen, in größerer Nähe
begegnen. Die Ansprüche, welche die schwere Arbeit
der Liebe an unsere Entwicklung stellt, sind überlebensgroß,
und wir sind ihnen, als Anfänger, nicht gewachsen.
Wenn wir aber doch aushalten und diese Liebe auf uns
nehmen als Last und Lehrzeit, statt uns zu verlieren
an all das leichte und leichtsinnige Spiel, hinter dem
die Menschen sich vor dem ernstesten Ernst ihres Daseins
verborgen haben, - so wird ein kleiner Fortschritt und
eine Erleichterung denen, die lange nach uns kommen,
vielleicht fühlbar sein; das wäre viel.
Wir kommen ja doch eben erst dazu, das Verhältnis
eines einzelnen Menschen zu einem zweiten einzelnen
vorurteilslos und sachlich zu betrachten, und unsere
Versuche, solche Beziehung zu leben, haben kein Vorbild
vor sich. Und doch ist in dem Wandel der Zeit schon
manches, das unserer zaghaften Anfängerschaft helfen
will.
Das Mädchen und die Frau, in ihrer neuen, eigenen
Enthaltung, werden nur vorübergehend Nachahmer
männlicher Unart und Art und Wiederholer männlicher
Berufe sein. Nach der Unsicherheit solcher Übergänge
wird sich zeigen, daß die Frauen durch die Fülle
und den Wechsel jener (oft lächerlichen) Verkleidungen
nur gegangen sind, um ihr eigenstes Wesen von den entstellenden
Einflüssen des anderen Geschlechts zu reinigen.
Die Frauen, in denen unmittelbarer, fruchtbarer und
vertrauensvoller das Leben verweilt und wohnt, müssen
ja im Grunde reifere Menschen geworden sein, menschlichere
Menschen als der leichte, durch die Schwere keiner leiblichen
Frucht unter die Oberfläche des Lebens herabgezogene
Mann, der, dünkelhaft und hastig, unterschätzt,
was er zu lieben meint. Dieses in Schmerzen und Erniedrigungen
ausgetragene Menschentum der Frau wird dann, wenn sie
die Konventionen der Nur-Weiblichkeit in den Verwandlungen
ihres äußeren Standes abgestreift haben wird,
zutage treten, und die Männer, die es heute noch
nicht kommen fühlen, werden davon überrascht
und geschlagen werden.
Eines Tages (wofür jetzt, zumal in den nordischen
Ländern, schon zuverlässige Zeichen sprechen
und leuchten), eines Tages wird das Mädchen da
sein und die Frau, deren Name nicht mehr nur einen Gegensatz
zum Männlichen bedeuten wird, sondern etwas für
sich, etwas, wobei man keine Ergänzung und Grenze
denkt, nur an Leben und Dasein -: der weibliche Mensch.
Dieser Fortschritt wird
das Liebe-Erleben, das jetzt voll Irrung ist
(sehr gegen den Willen der überholten Männer
zunächst), verwandeln,
von Grund aus verändern, zu einer Beziehung umbilden,
die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von
Mann zu Weib. Und diese menschlichere Liebe (die unendlich
rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in Binden
und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln,
die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe,
die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander
schützen, grenzen und grüßen.
Und das noch: Glauben Sie nicht, daß jene große
Liebe, welche Ihnen, dem Knaben, einst auferlegt worden
ist, verloren war; können Sie sagen, ob damals
nicht große und gute Wünsche in Ihnen gereift
sind und Vorsätze, von denen Sie heute noch leben?
Ich glaube, daß jene Liebe so stark und mächtig
in Ihrer Erinnerung bleibt, weil sie Ihr erstes tiefes
Alleinsein war und die erste innere Arbeit, die Sie
an Ihrem Leben getan haben. Alle guten Wünsche
für Sie, lieber Herr Kappus!
Ihr:
Rainer Maria Rilke
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And you should not let yourself be confused in your
solitude by the fact that there is something in you
that wants to move out of it. This very wish, if you
use it calmly and prudently and like a tool, will help
you spread out your solitude over a great distance.
Most people have (with the help of conventions) turned
their solutions toward what is easy and toward the easiest
side of the easy; but it is clear that we must trust
in what is difficult; everything alive trusts in it,
everything in Nature grows and defends itself any way
it can and is spontaneously itself, tries to be itself
at all costs and against all opposition. We know little,
but that we must trust in what is difficult is a certainty
that will never abandon us; it is good to be solitary,
for solitude is difficult; that something is difficult
must be one more reason for us to do it.
It is also good to love: because love is difficult.
For one human being to love another human being: that
is perhaps the most difficult task that has been entrusted
to us, the ultimate task, the final test and proof,
the work for which all other work is merely preparation.
That is why young people, who are beginners in everything,
are not yet capable of love: it is something they must
learn. With their whole being, with all their forces,
gathered around their solitary, anxious, upward-beating
heart, they must learn to love. But learning-time is
always a long, secluded time ahead and far on into life,
is - ; solitude, a heightened and deepened kind of aloneness
for the person who loves. Loving does not at first mean
merging, surrendering, and uniting with another person
(for what would a union be of two people who are unclarified,
unfinished, and still incoherent - ?), it is a high
inducement for the individual to ripen, to become something
in himself, to become world, to become world in himself
for the sake of another person; it is a great, demanding
claim on him, something that chooses him and calls him
to vast distances. Only in this sense, as the task of
working on themselves ("to hearken and to hammer
day and night"), may young people use the love
that is given to them. Merging and surrendering and
every kind of communion is not for them (who must still,
for a long, long time, save and gather themselves);
it is the ultimate, is perhaps that for which human
lives are as yet barely large enough.
But this is what young people are so often and so disastrously
wrong in doing they (who by their very nature are impatient)
fling themselves at each other when love takes hold
of them, they scatter themselves, just as they are,
in all their messiness, disorder, bewilderment. . .
. : And what can happen then? What can life do with
this heap of half-broken things that they call their
communion and that they would like to call their happiness,
if that were possible, and their future? And so each
of them loses himself for the sake of the other person,
and loses the other, and many others who still wanted
to come. And loses the vast distances and possibilities,
gives up the approaching and fleeing of gentle, prescient
Things in exchange for an unfruitful confusion, out
of which nothing more can come; nothing but a bit of
disgust, disappointment, and poverty, and the escape
into one of the many conventions that have been put
up in great numbers like public shelters on this most
dangerous road. No area of human experience is so extensively
provided with conventions as this one is: there are
live-preservers of the most varied invention, boats
and water wings; society has been able to create refuges
of very sort, for since it preferred to take love-life
as an amusement, it also had to give it an easy form,
cheap, safe, and sure, as public amusements are.
It is true that many young people who love falsely,
i.e., simply surrendering themselves and giving up their
solitude (the average person will of course always go
on doing that - ), feel oppressed by their failure and
want to make the situation they have landed in livable
and fruitful in their own, personal way -. For their
nature tells them that the questions of love, even more
than everything else that is important, cannot be resolved
publicly and According to this or that agreement; that
they are questions, intimate questions from one human
being to another, which in any case require a new, special,
wholly personal answer -. But how can they, who have
already flung themselves together and can no longer
tell whose outlines are whose, who thus no longer possess
anything of their won, how can they find a way out of
themselves, out of the depths of their already buried
solitude?
They act out of mutual helplessness, and then if, whit
the best of intentions, they try to escape the conventions
that is approaching them (marriage, for example), they
fall into the clutches of some less obvious but just
as deadly conventional solution. For then everything
around them is - convention. Wherever people act out
of a prematurely fused, muddy communion, every action
is conventional: every relation that such confusion
leads to has its own convention, however unusual (i.e.,
in the ordinary sense immoral) it may be; even separating
would be a conventional step, an impersonal, accidental
decision without strength and without fruit.
Whoever looks seriously will find that neither for
death, which is difficult, nor for difficult love has
any clarification, any solution, any hint of a path
been perceived; and for both these tasks, which we carry
wrapped up and hand on without opening, there is not
general, agreed-upon rule that can be discovered. But
in the same measure in which we begin to test life as
individuals, these great Things will come to meet us,
the individuals, with greater intimacy. The claims that
the difficult work of love makes upon our development
are greater than life, and we, as beginners, are not
equal to them. But if we nevertheless endure and take
this love upon us as burden and apprenticeship, instead
of losing ourselves in the whole easy and frivolous
game behind which people have hidden from the most solemn
solemnity of their being, - then a small advance and
a lightening will perhaps be perceptible to those who
come long after us. That would be much.
We are only just now beginning to consider the relation
of one individual to a second individual objectively
and without prejudice, and our attempts to live such
relationships have no model before them. And yet in
the changes that time has brought about there are already
many things that can help our timid novitiate.
The girl and the woman, in their new, individual unfolding,
will only in passing be imitators of male behavior and
misbehavior and repeaters of male professions. After
the uncertainty of such transitions, it will become
obvious that women were going through the abundance
and variation of those (often ridiculous) disguises
just so that they could purify their own essential nature
and wash out the deforming influences of the other sex.
Women, in whom life lingers and dwells more immediately,
more fruitfully, and more confidently, must surely have
become riper and more human in their depths than light,
easygoing man, who is not pulled down beneath the surface
of life by the weight of any bodily fruit and who, arrogant
and hasty, undervalues what he thinks he loves. This
humanity of woman, carried in her womb through all her
suffering and humiliation, will come to light when she
has stripped off the conventions of mere femaleness
in the transformations of her outward status, and those
men who do not yet feel it approaching will be astonished
by it. Someday (and even now, especially in the countries
of northern Europe, trustworthy signs are already speaking
and shining), someday there will be girls and women
whose name will no longer mean the mere opposite of
the male, but something in itself, something that makes
one think not of any complement and limit, but only
life and reality: the female human being.
This advance (at
first very much against the will of the outdistanced
men) will transform the
love experience, which is now filled with error, will
change it from the ground up, and reshape it into a
relationship that is meant to be between one human being
and another, no longer one that flows from man to woman.
And this more human love (which will fulfill itself
with infinite consideration and gentleness, and kindness
and clarity in binding and releasing) will resemble
what we are now preparing painfully and with great struggle:
the love that consists in this: the two solitudes protect
and border and greet each other.
And one more thing: Don't think that the great love
which was once granted to you, when you were a boy,
has been lost; how can you know whether vast and generous
wishes didn't ripen in you at that time, and purposes
by which you are still living today? I believe that
that love remains strong and intense in your memory
because it was your first deep aloneness and the first
inner work that you did on your life. - All good wished
to you, dear Mr. Kappus!
Yours,
Rainer Maria Rilke
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